karibische Literatur

karibische Literatur
karibische Literatur,
 
westịndische Literatur, die in englischer, französischer, niederländischer und spanischer Sprache sowie in den entsprechenden kreolischen Sprachen verfasste Literatur der Westindischen Inseln, Französisch-Guayanas, Surinams und Guyanas, wobei die kubanische Literatur in der Regel der lateinamerikanischen Literatur zugerechnet wird.
 
Die Entwicklung der karibischen Literatur wurde v. a. von der kolonialen Situation (Plantagenwirtschaft, Sklavenarbeit, Kontraktarbeit) bestimmt, die die Bevölkerung unterschiedlicher Kulturkreise in einer sozialen und rassischen Hierarchie verschmolz. Die Kultur der präkolumbischen Indianer (Aruak) war infolge der spanischen Eroberung zugrunde gegangen. Da die im 17. und 18. Jahrhundert aus Westafrika in die Karibik verschleppten Sklaven und ihre Nachkommen ihre literarischen Traditionen mündlich weitertrugen und die ersten einheimischen Autoren (in der Regel Angehörige der weißen Oberschicht) den literarischen Vorbildern des jeweiligen Mutterlandes folgten, konnte erst seit Ende des 19. Jahrhunderts eine eigenständige karibische Literatur entstehen.
 
Erste Vorstellungen von einer allumfassenden afrikanischen Identität finden sich in der anglophonen karibischen Literatur bereits 1888 (»Emancipation chorus«) in der Lyrik T. R. F. Elliots in Guyana. Den ersten westindischen Roman (»Jane's career«) mit einer schwarzen Zentralfigur schrieb 1914 Herbert George De Lisser (* 1878, ✝ 1944). Richtungweisend wirkte v. a. der gebürtige Jamaikaner C. McKay (u. a. »Banana bottom«, 1933), der seine Ideale vor dem Hintergrund der afroamerikanischen Protestbewegung der 1920er-Jahre (Harlem-Renaissance) formuliert hatte. Von großer politischer und sozialer Bedeutung waren der »Aufstand von Saint Kitts« (1935) und eine in dieser Zeit von Jamaika ausgehende Solidaritätsbewegung aller karibischer Länder, die zu einer Vielzahl an kulturellen Aktivitäten führte, u. a. 1942 zur Gründung der literarischen Zeitschrift »Bim« (durch Francis A. Collymore, * 1893, ✝ 1980), in der auch E. K. Brathwaite und D. A. Walcott ihre Werke veröffentlichten. Auf einer breiteren Basis etablierte sich nun ein Selbstbewusstsein, dessen Wurzeln in der Hinwendung zu Afrika, der kulturellen Wiege der Bevölkerungsmehrheit, lagen. Das gilt v. a. für die Romane V. Reids (»New day«, 1949) und G. Lammings (»In the castle of my skin«, 1953) sowie für Walcotts Gedichte, u. a. »A far cry from Africa« (in: »In a green night«, 1962). Die Literatur der Nachkriegszeit steht in engem Zusammenhang mit der politischen Entwicklung einzelner Regionen - so z. B. die in Haft geschriebenen »Poems of resistance« (1954) Martin Carters (* 1927) mit der Unabhängigkeitsbestrebung Guyanas oder Ralph de Boissieres (* 1907) »Crown jewel« (1952) mit sozialer Ungerechtigkeit und Klassenkampf im Trinidad der 1930er-Jahre - und zeugt insgesamt von einem starken sozialen Engagement. Zu den wichtigsten sozialkritischen Erzählern gehören A. Mendes (»Pitch Lake«, 1934), C. L. R. James (»Minty Alley«, 1936), E. A. Mittelholzer (»Corentyne thunder«, 1941) und R. Mais (»Brother man«, 1954). Themen der 1950er-Jahre sind v. a. im Werk S. Selvons (»A brighter sun«, 1952) und Mittelholzers (»A morning in the office«, 1950) die Suche nach einer aus vielen ethnischen Elementen geformten nationalen Identität, ein Bestreben, das sich in der zunehmenden Verwendung lokaler Dialekte und Soziolekte sowie in der Thematik des Exils widerspiegelt. Eine v. a. im afrikanischen Erbe wurzelnde Standortbestimmung der karibischen Existenz versucht Brathwaite, der seit den 1960er-Jahren volkstümlichen Traditionen (Worksong) mit Musikformen wie Calypso und Reggae (M. Smith) sowie Techniken der modernen Lyrik verbindet.
 
In den letzten Jahrzehnten wurden neben London verstärkt auch New York, Boston und Toronto zu Zentren westindischer Emigration und ihrer Kultur (u. a. Paula Marshall, Jamaica Kincaid, Walcott, der 1992 den Nobelpreis für Literatur erhielt, S. D. Selvon, Austin Clarke, * 1932).
 
Eine Sonderstellung innerhalb der anglophonen karibischen Literatur nehmen die Romane und v. a. Reiseberichte des der Dritten Welt kritisch gegenüberstehenden V. S. Naipaul und die kosmologischen Romane von W. Harris ein. In jüngster Zeit treten v. a. auch Autorinnen in den Vordergrund, so z. B. als Erzählerinnen Jamaica Kincaid, Erna Brodber (* 1940) und Merle Hodge (* 1944), als Lyrikerinnen Grace Nichols und Lorna Goodison sowie das Sistren-Kollektiv (Drama).
 
In Großbritannien entsteht seit den 1970-er Jahren zudem eine karibische Literatur der 2. Generation: David Dabydeen (* 1955), Joan Riley (* 1958), Faustin Charles (* 1944), C. Phillips, E. Archie Markham (* 1939).
 
Der anglophonen karibischen Literatur vergleichbaren Entstehungsbedingungen war die frankophone karibische Literatur unterworfen, die im 18. Jahrhundert in Form von Reiseberichten französischer Missionare einsetzte, u. a. von Jean-Baptiste Labat (* 1663, ✝ 1738), dessen zynische Schilderung der Sklaven und ihrer Lage der französischen Aufklärung die Grundlage ihrer gegensätzlichen Vorstellungen lieferte, aber auch ein bleibendes Negativbild der »Schwarzen« prägte. In Guayana, Guadeloupe und Martinique blieb die Literatur bis ins 19. Jahrhundert im Wesentlichen epigonal, während auf Haiti im Zuge der nachrevolutionären Sklavenaufstände und der Unabhängigkeit (1804) die ersten Schriften schwarzer und mulattischer Autoren mit haitianischer Thematik entstanden. D. F. Toussaint Louverture, der als Anführer der Sklaven selbst zur literarischen Figur wurde, Boisrond-Tonnerre (* 1776, ✝ 1806), Autor der Unabhängigkeitserklärung, sowie die Historiker Émile Nau (* 1812, ✝ 1860), Thomas Madiou (* 1814, ✝ 1884) und Joseph Saint-Rémy (* 1818, ✝ 1858) stärkten in Schriften und patriotischen Gedichten das Nationalbewusstsein. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt in der romantischen Dichtung z. B. Oswald Durands (* 1840, ✝ 1906) das Volkstümliche zur Geltung, während sich u. a. Louis-Joseph Janvier (* 1855, ✝ 1911) mit der Rassentheorie J. A. de Gobineaus auseinander setzte. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfassten »Nationalromane« (u. a. von Justin Lhérisson, * 1873, ✝ 1907) charakterisieren auf originelle Art die haitianische Gesellschaft. Mit der amerikanischen Besetzung (1915-34) führte ein Nachdenken über die Überfremdung des Landes zu einer Rückbesinnung auf das afrohaitianische Kulturgut, die J. Price-Mars einleitete. Die Darstellung des bäuerlichen Lebens, auch der zuvor tabuisierten magischen Praktiken, nimmt nun einen zentralen Platz im Roman ein (Philippe Thoby-Marcelin, * 1904, ✝ 1975; J. Roumain, J. S. Alexis). Die diktatorische Herrschaft der Familie Duvalier trieb nach 1960 zahlreiche kritische Schriftsteller ins Exil (René Depestre, * 1926; Jean-Fernand Brierre, * 1909; A. Phelps u. a.). 1975 erschien auf Haiti der erste kreolische Roman (»Dézafi«) von Frankétienne (* 1936). In den übrigen Gebieten bestand weiterhin eine nach Frankreich ausgerichtete Literatur, die im Werk des aus Guadeloupe stammenden Saint-John Perse ihren Höhepunkt fand.
 
Im Paris der 1930er-Jahre begründeten karibische (A. Césaire, L.-G. Damas) und afrikanische (L. S. Senghor) Intellektuelle die Dichtung der Négritude, die mit »Pigments« (1933) von Damas und »Cahier d'un retour au pays natal« (1939) von Césaire die karibische Lyrik grundlegend erneuerte. Nach 1945 entstand eine Literatur, die sich v. a. mit dem Kolonialismus auseinander setzte, u. a. in den theoretischen Schriften F. Fanons, den Romanen J. Zobels sowie bei Michèle Lacrosil (* 1915), Bertème Juminer (* 1927) und Maryse Condé. Mit seinem Konzept der Antillanité bringt É. Glissant eine spezifisch karibische Identität zum Ausdruck, die er in seinem Werk konkretisiert, auch dadurch, dass er die Sprache der Kolonialherren verformt. Einen ähnlichen Ansatz vertreten Daniel Maximin (* 1947) in »L'isole soleil« (1981), P. Chamoiseau in »Solibo magnifique« (1988) sowie J. Métellus und Simone Schwarz-Bart.
 
Die spanischsprachige karibische Literatur brach, beeinflusst vom spanisch-amerikanischen Modernismus und der Rückbesinnung auf das afrokarib. Erbe in den frankophonen Gebieten in den 1920er-Jahren ebenfalls mit europäischen Vorbildern und entwickelte u. a. in der afroantillen Lyrik eigenständige Richtungen. Bedeutende Vertreter der Literatur der Dominikanischen Republik sind: Manuel de Cabral (* 1907), P. Mir, Manuel Rueda (* 1921, ✝ 1999) und der frühere Präsident J. Bosch. Die Literatur Puerto Ricos wird v. a. durch die Werke von L. Palés Matos, Julia de Burgos (* 1914, ✝ 1953), R. Marqués, Luis Rafael Sánchez (* 1936), Rosario Ferré (* 1942), Edgardo Rodríguez Juliá (* 1946) sowie von Manuel Ramos Otero (* 1948) repräsentiert.
 
Auf den Niederländischen Antillen gibt es neben der spanischsprachigen und niederländischen karibischen Literatur auch eine Literatur in der auf dem Spanischen basierenden kreolischen Sprache Papiamento, deren bedeutendster Vertreter Frank Martinus Arion (* 1936) aus Curaçao ist. Sein auf Niederländisch verfasster Roman »Dubbelspel« (1973) liegt auch in deutscher Übersetzung (»Doppeltes Spiel«) vor. Aus Surinam kommt der Schriftsteller R. Dobru (* 1935), der sowohl niederländisch als auch in der englischen Kreolsprache Sranan schreibt.
 
 
Caribbean writers, hg. v. D. E. Herdeck u. a. (Washington, D. C., 1979);
 
West Indian literature, hg. v. B. King (London 1979);
 K. Ramchand: The West Indian novel and its background (ebd. 21983);
 
Der karib. Raum zw. Selbst- und Fremdbestimmung. Zur k. L., Kultur u. Gesellschaft, hg. v. R. Sander (1984);
 
Entwicklungen im karib. Raum: 1960-1985, hg. v. W. Binder (1985);
 B. Ormerod: An introduction to the French Caribbean novel (London 1985);
 
Fifty Carribean writers, hg. v. D. C. Dance (New York 1986);
 F. Birbalsingh: Passion and exile. Essays on Caribbean literature (London 1988);
 D. L. Anderson: Decolonizing the text. Glissantian readings in Caribbean and African-American literatures (New York 1995).

Universal-Lexikon. 2012.

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